Vergiss mein nicht

Eine Kurzgeschichte von Olga A. Krouk

Yves de la Chevallerie hatte vor niemandem Angst. Zumal sogar seine Freunde sich in die Hosen machten, wenn sie ihm auf einer schwach beleuchteten Straße begegneten. Doch jetzt, als er mit seiner Angebeteten vor dem Baumhäuschen der zukünftigen Schwiegereltern stand, war ihm mulmig zumute.

Lori stellte sich auf die Zehenspitzen und zupfte am Revers seiner weißen Paradeuniform. „Na los, Krieger! Du schaffst das!“

Viel zu gut wusste sie, wie Yves sich gerade fühlte. Es war nicht lange her, dass er sie der Chevallerie – Familie vorgestellt hatte. Ihre spitzen Ohren glühten immer noch bei dem Gedanken daran, wie sie zu seiner Mutter „Monsieur“ und zu seinem Vater „Madame“ gesagt hatte.

Yves umschloss ihre schmale Taille mit beiden Händen und hob die kleine Baumnymphe in die Luft. Er hätte das auch mit einer Hand meistern können – mit ihrer zierlichen Gestalt war sie leicht wie eine Feder.

„Je t’aime, ma petite nymphe“, flüsterte er.

Lori lachte und verwuschelte sein dichtes, schwarzes Haar. Sie mochte es, wenn er mit ihr in seiner Muttersprache redete.

„Ich liebe dich auch, Flieger“, sagte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.

Yves stellte seine Liebste auf den Boden und öffnete ihr die Tür. Sie huschte hinein, er zwängte sich hinter ihr durch den Türrahmen.

Loris Eltern saßen auf dem Sofa und schauten gerade die 356. Folge von „Gute Zwerge, Schlechte Zwerge“. Mama Pia, eine angesehene Elefantenfuß-Dryade mit der Figur eines gut gegangenen Hefeteigs, hörte die Tür quietschen und blickte auf. Sie öffnete gerade den Mund zu einem Willkommensgruß, da hatte ihr Hirn die vom Sehnerv übermittelte Botschaft analysiert. Ihr freundliches Hamsterbäckchengesicht entgleiste zu einer entsetzten Grimasse, und Pia bemühte sich krampfhaft, Schrei und Brechreiz gleichzeitig zu unterdrücken.

Mit seinem massiven Körper füllte der Gast etwa die Hälfte des Zimmers aus. Die Dielen stöhnten unter seinem Gewicht. Das Baumhäuschen schwankte bedenklich und drohte bei einer unvorsichtigen Bewegung abzustürzen.

Papa Norwin, dürr wie sein Schützling Bambus, versteckte sich hinter der aktuellen Ausgabe von „Schöner Düngen“. Seine Hände zitterten und ließen die Blätter rascheln.

„Vielleicht geht er wieder, wenn wir uns nicht bewegen?“, murmelte er.

Lori strich sich eine ihrer kirschblütenfarbenen Haarsträhnen aus der Stirn und wackelte mit ihren länglichen Ohren wie ein Reh.

„Mam? Pa? Darf ich vorstellen? Das ist Yves de la Chevallerie.“ Sie suchte Yves’ Hand. „Wir wollen heiraten.“

Mama Pia stieß ein erschrockenes „Hicks“ aus.

Papa Norwin spähte über den Magazinrand und schluckte vernehmlich.

„A-als du uns von deiner interkulturellen Liebe erzählt hast, habe ich mir was anderes vorgestellt. Einen Elfen. Oder im schlimmsten Fall einen Druiden. Aber das ist doch ein – ein – Hicks!“

Der Schluckauf scheint hier ansteckend zu sein, dachte Yves. Zum Glück war er gegen alles Mögliche geimpft, von Heuschnupfen bis zur Vogelgrippe. Auch wenn letztere ihn kaum erwischen konnte, hatte seine Regierung veranlasst, alles, was fliegt, dagegen zu immunisieren.

„Ein Ork“, beendete Lori den Satz ihrer Mutter voller Stolz. Ihre lavendelfarbenen Augen strahlten. „Und nicht irgendein Ork, sondern ein Oberstleutnant der Orkischen Luftwaffe!“

Mama Pia verschluckte sich an einem weiteren „Hicks!“. Der Brechreiz wich endgültig blankem Entsetzen.

„Und was soll bitteschön diese Beziehung hervorbringen?“, fauchte sie und stemmte ihre Hände in die dicken Hüften. „Kleine auberginefarbene Warzenmonster? Wirklich, die Welt ist schon hässlich genug!“

Yves senkte den Blick. Mama Pia hatte es noch nett ausgedrückt. Alle Anderen behaupteten, seine Fresse ließe Blumen welken und Milch säuern.

Lori stellte sich schützend vor ihn.

„Was ist nur los mit euch? Seine Eltern waren um einiges toleranter, als ihr! Im Château de l’Air habe ich mich sofort zuhause gefühlt!“

„Aber hat der Sternmagier nicht vorausgesagt, dass du Narziss heiraten wirst? Sein Vater ist übrigens ein Flussgott!“, wisperte Mama Pia.

„Sternmagier!“, Lori schüttelte den Kopf. „Was weiß schon dieser alte Knacker! Als Yves und ich uns auf dem Heavy Metal Konzert gesehen haben, hat es zwischen uns geknistert. Mama, da lag Magie in der Luft! Magie – und Heavy Metal.“

„Lori, wir leben in der magischen Dimension! Hier liegt immer Magie in der Luft!“ Pia  schnüffelte und verzog das Gesicht. „Auch wenn sie nicht immer wohl riecht, die Luft.“

Papa Norwin wurde rot.

„Tschuldigung“, murmelte er und rieb beschämt seine Finger aneinander. „Das war keine Magie, das war ich.“

Seine Worte gingen im Krach der aufspringenden Eingangstür unter. Ins Wohnzimmer stürzte Narziss. Sein rotes Ohr deutete darauf hin, dass er damit draußen am Schlüsselloch geklebt hatte.

„Das ist doch pervers!“, schrie er und fummelte hektisch am Jägergürtel mit der riesigen Silberschnalle. Zu seinem Smoking wirkte das Stück mehr als fehl am Platz. „Wie kann man einen solchen Fleischklumpen lieben? Schaut doch seine Krallen an!“ Narziss schüttelte sich demonstrativ. „Der weiß nicht mal, was das Wort Maniküre bedeutet!“

Lori hob eine Augenbraue und betrachtete den Schönling von Kopf bis Fuß. Wegen seiner himmelblauen Augen, blonden Locken und porzellanglatten Haut war Narziss schon drei Mal nacheinander vom Magazin „No People“ zur Sexiest Creature Alive gewählt worden. Narziss schürte seine mit Lipgloss überzogenen Lippen und quietschte aus Leibeskräften: „Der sieht ja selbst in der Galauniform noch Scheiße aus!“

„Mach sitz!“, donnerte Yves, dass die Wände des Baumhäuschens erbebten. Er mochte es nicht, wenn er laut werden musste, aber dieses Gekreische hielt man ja im Kopf nicht aus! Und ob er auch dagegen geimpft worden war, wusste er nicht mehr so genau.

Narziss blickte Yves hasserfüllt an. „Ach so? Mein Schatzssss!“, zischte er, packte Lori am Arm und drückte auf seine Gürtelschnalle. „Sie ist mein Schatz, kapiert?“

Yves stürmte auf ihn zu, doch seine Finger griffen ins Leere. Narziss und Lori lösten sich in einem silbernen Licht auf und feiner Glitzerstaub rieselte zu Boden. Mama Pia stemmte sich aus dem Sofa hoch.

„Nein! Gib mir meine Kleine zurück!“, ihre Stimme bebte. „Lori! Ohne dich werden doch alle Kirschbäume eingehen!“

Papa Norwin nahm sie in den Arm. Eng umschlungen sahen sie wie zwei Bäume aus, die einander stützten.

Yves schluckte schwer. So elend hatte er sich zuletzt gefühlt, als fünf Bergtrolle seinen kleinen Lindwurm Fleur in Schaschlik verwandelt hatten. Was Yves im Gegenzug aus den fünf Bergtrollen gemacht hatte, stand am nächsten Tag auf den Titelseiten der Klatschpresse.

„Ich finde sie. Die Kirschbäume werden wieder blühen. Versprochen.“

Sein Jet parkte auf der Wiese. An der Scheibe klebte schon ein quietschorangener Werbezettel „Thor liebt dich“ von der Sekte, die genau wusste, wo der große Hammer hing.

Yves zerknüllte das Blatt, kletterte ins Cockpit und fuhr die Systeme hoch. Die Turbinen heulten auf und ließen Zweige, Blätter und Graszwerge vom Boden durch die Luft wirbeln. Der Düsenjäger erzitterte und stieg senkrecht in die Höhe.

Yves setzte sein Headset auf und gab Loris magische Signatur ins Navigationssystem ein. Auf dem Display erschien ein blinkender roter Punkt, der sich schnell von Yves eigener Position entfernte. Narziss hatte sich tatsächlich auf ein Flugzeug gebeamt.

Der Jet sauste in einer scharfen Kurve in den Himmel. Er durchbrach den Wolkenschleier und raste durch die unendliche blaue Weite.

„Achtung!“, meldete sich die mechanische Stimme des Systems. „Sie verlassen die magische Dimension! Die Umkehr wird dringend empfohlen!“

Statt Umkehr gab Yves noch mehr Schub. Der Düsenjäger stürzte in ein unsichtbares Loch und begann zu trudeln. Erst wenige Meter vor der Meeresoberfläche gelang es Yves, das Flugzeug abzufangen. Er atmete auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Oha. Tarneinrichtung aktivieren. Den Planeten scannen.“

„Planet Erde“, knisterte es aus den Kopfhörern. „Absolut magielos. Dominiert von einer affenartigen Spezies namens Homo Sapiens.“

„Na super!“, knurrte Yves. „Planet der Affen. Das hat gerade noch gefehlt.“

Unter ihm sausten Werften, Häuser und Straßen vorbei. Über dem blinkenden Punkt erschien die Überschrift: Deutschland-Hamburg – Planten un Blomen.

„Dann suchen wir mal einen Parkplatz“, murmelte Yves.

Das, was den seltsamen Namen Deutschland – Hamburg – Planten un Blomen trug, entpuppte sich als eine Parkanlage. Unsichtbar für jede nichtmagische Spezies, landete der Düsenjäger auf einer Wiese. Yves steckte sich das Kommunikationsgerät ins Ohr, löste das Navigationssystem aus der Halterung und stieg aus. Sein rechter Fuß tappte in eine weiche, braune Masse.

„Ah, Kacke!“, fluchte er.

„Korrekt“, bestätigte das System nach der chemischen Analyse. Es machte fröhlich „Tadaaa!“, und auf dem Display erschienen zurücklaufende Zahlen: 5:00, 4:59, 4:58 …

Yves schnaubte. „Was soll der Countdown?“

„Die Magielosigkeit dieser Welt löscht das Erinnerungsvermögen jedes magischen Wesens aus. Nur der Gürtel von Orion kann den Gedächtnisverlust verhindern.“

Er spürte, wie kalter Schweiß seinen Rücken hinunter lief. Erst jetzt begriff er, wofür Narziss, der das Wort „Jäger“ nicht mal buchstabieren konnte, den Jägergürtel benötigte.

„Kurtschstak tru haratschip?“

Yves zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihm stand ein minderjähriges Affenindividuum und zeigte ein grenzdebiles Lächeln.

Yves verzog das Gesicht und drückte einen Knopf auf dem Ohrstecker.

„Sprachanalyse wird vorbereitet“, meldete das System. „Deutschinstallation läuft.“

„Grist fu ein Ork oder so?“, fragte das Äffchen.

„Nee, wie kommst du denn bloß darauf“, antwortete Yves in bestem Deutsch. Er wandte sich in die Richtung, die das Navigationssystem wies.

3:12, 3:11 … zählte das Display.

„Kommst du aus Mittelerde?“, die Nervensäge tapste hinter ihm her. „Eher aus World of Warcraft, was? Und seit wann haben Orks PDAs?“

„Ihr lebt ja auch nicht mehr im Mittelalter, oder?“

„Krass, Mann! Und was machst du hier so?“

„Himmel Sakra und Sarons Unterhosen!“, schimpfte Yves. „Noch ein Wort und ich stecke dich kopfüber in die Mülltonne, verstanden?“

Das Äffchen stieß ein ersticktes „Jo, Mann. Schon klar, Mann“ aus.

Yves nickte zufrieden. Mitunter war das schlechte Image seines Volkes doch für was gut.

2:19, 2:18, 2:17 …

In seiner Erinnerung begannen vertraute Gesichter bereits zu verblassen, verloren Namen. Panik stieg in ihm hoch und er rannte noch schneller, stieß die im Weg stehenden Primaten zur Seite. Sein Sprachsystem schien noch in der Beta-Version zu sein, denn obwohl die Affen offensichtlich ärgerlich reagierten, sprachen viele ziemlich oft von seiner Mutter.

0:15, 0:14 …

Yves blieb stehen. Sein Herz schlug bis zum Hals. Auch, wenn Lori ihn nicht hören konnte, rief er „Bitte! Vergiss mich nicht.“

0:02, 0:01, 0:00

„Lori“, sprach er den Namen aus, der ihm nichts mehr bedeutete.

Während der nächsten fünf Minuten, in denen Yves ziellos durch den Park irrte, wurden ihm zwei Dinge bewusst: Sein Gesicht erschreckte kleine Kinder und er hatte kein Geld für ein Eis.

Abwesend schlenderte er an einer Baustelle vorbei. Das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben, ließ ihn nicht los.

Yves spazierte durch die Bögen des Rosengartens. Schließlich setzte er sich auf eine Bank und wandte sein struppiges Gesicht der Sonne zu, die sich daraufhin schnell hinter eine Wolke verdrückte.

„Sag mal, welchen Teil von Hau Ab hast du nicht verstanden?“, hörte er plötzlich jemanden fragen.

Zwischen all den Rosen stand eine Frau mit kirschblütenfarbenem Haar. Vor ihr kroch ein Milchbubi auf den Knien, schluchzte und wedelte in der Luft mit dem Beziehungsratgeber „Warum Kobolde nie zuhören und Elfen mit ihren Pflanzen reden“.

„Aber Lori! Du musst mich lieben! Hier steht es schwarz auf weiß. Zwei wie wir sind füreinander geschaffen!“

Yves schritt auf den Kerl zu. Höflich tippte er ihm auf die Schulter:

„Monsieur? Die Dame hat Sie gebeten, zu gehen.“

Narziss sprang auf. Wie ein kleines, bockiges Kind traktierte er die Brust des Orkes mit den Fäusten.

„Sie gehört mir, hörst du? Geh weg! Verschwinde!“

Yves verzog das Gesicht. Das Gekreische bescherte ihm Kopfschmerzen und ein ganz merkwürdiges Déjà-vu Gefühl. Ohne lange zu überlegen packte er den Kerl am Kragen und warf ihn in die Rosenbüsche. Der Bursche landete mit dem Po in den Dornen und sein Kopf stieß gegen einen Stein.

Regungslos blieb der Kerl liegen, dann stöhnte er, setzte sich auf und rieb sich die Beule am Hinterkopf.

„Wo bin ich? Wer …  wer bin ich?“, stammelte er, denn gegen eine mittelschwere Gehirnerschütterung konnte nicht mal der Gürtel von Orion helfen. Verwirrt blickte der Schönling in eine Pfütze und ein Lächeln erhellte sein Gesicht.

„Oohh, wer bist du denn, mein Schatz? Willst du mit mir gehen?“

Erleichtert blickte Lori zu ihrem Retter auf. „Der hat vielleicht genervt!“

Yves schaute ihr in die Augen und hatte den Eindruck, in einem Lavendelmeer zu versinken. Es knisterte – jemand auf der Baustelle warf das Schweißgerät an. Von der Bühne in der Nähe erschallten E-Gitarren und Schlagzeug.

Yves hielt Loris Hand. Sie sahen einander stumm an und lächelten.

Es lag Magie in der Luft.

Magie – und Heavy Metal.

(c) by Olga A. Krouk